Literatur

Letzte Ausfahrt Patagonien
von Gabor Pox

Letzte Ausfahrt Patagonien

Gabor Pox

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Eine Tirologie

Victor pausiert sein Studium in Meran, um eine Abenteuerreise nach Patagonien zu unternehmen. Er plant dabei zwei Projekte umzusetzen: einen Outdoor-Film für die E.O.F.T. zu drehen und sein Buch über Südtirol fertigzuschreiben. Unerwartete Hindernisse zwingen ihn jedoch, mehr Zeit als geplant in das Buchprojekt zu investieren. Die Leser erleben zwei von Kälte und Schnee beziehungsweise Konflikten geprägte, faszinierende Welten hautnah mit. Da ist zum einen Patagonien, eine beeindruckende Naturlandschaft im Süden Argentiniens und Chiles, in der die Ureinwohner um Landrechte und gegen die Ausbeutung von Rohstoffen kämpfen.  Der Gegenpol ist Victors Heimat Südtirol, die seit hundert Jahren in einer Identitätskrise steckt und hin- und hergerissen ist zwischen Österreich und Italien. Gibt es dann ein Happy End – zumindest für Victors Reise?

vierzig sekunden

Selektion

Die berühmte argentinische Nationalstraße RN 40 passiert den Monte Fitz Roy und den Perito-Moreno-Gletscher im Nationalpark Los Glaciares. Mateo, ein junger Argentinier mit Quechua-Vorfahren und frischem Führerschein, war gerade in diese Richtung mit dem Pick-up seines Vaters unterwegs. Plötzlich sah er einen Radfahrer, der seine Hand hob, um den Wagen anzuhalten. Es war ein ähnlich junger Mann, sportlich gekleidet, mit Rucksack am Fuß und zwei Seitentaschen am Fahrrad. Mateo bremste sanft, so sanft, dass er nicht mehr rechtzeitig anhalten konnte. Er wartete, bis der Radfahrer das Rad hinschob und ihn durch das heruntergelassene Fenster freundlich grüßte.

»Buenas tardes«, sagte er und wechselte dann auf Englisch. „Ich habe eine Platte und keine Lust mehr, die Reifen hier zu flicken. Kannst du mich zur nächsten Ortschaft oder Tankstelle bringen?« Mateo nickte freundlich, stieg aus und half, das Rad und die Taschen auf die Ladefläche des Pick-ups zu heben. Dann stiegen sie ins Auto ein. Der Radfahrer hielt seinen Rucksack fest bei sich. Ein langes, in eine Hülle verpacktes Teil darin könnte eine Waffe sein, dachte Mateo und gab Gas. Plötzlich war er nicht mehr so sanft.

»Danke nochmal. Ich heiße Victor und komme aus Europa.«

»Mit dem Fahrrad?«

»Ja, aber nicht auf dem Fahrrad. Ich bin mit dem Flugzeug nach Buenos Aires geflogen, das Fahrrad kam als Sperrgepäck mit.«

»Oh, Buenos Aires! Die Stadt der guten Luft! Es stimmt gar nicht mehr, Males Aires wäre passender. Ich bin Mateo und wohne in einer Kleinstadt, wo die Luft wirklich gut ist.«

Dann hörten die beiden kurz auf, miteinander zu reden. Victor schaute seinen Rucksack an. Es schien trocken zu sein. Dann prüfte er den Ladezustand seines Smartphones. 38 % waren ziemlich wenig. Er zog das Ladekabel aus der Seitentasche und verband das Handy mit dem Batterie-Pack. Er nahm seine Sonnenbrille ab, schaltete sie ein – es war eine Meta-Brille mit eingebauter Kamera – und sie meldete akustisch einen Ladezustand von 55 %. „Meine technische Ausrüstung soll nicht zu sehr in den Mittelpunkt rücken”, dachte er und schaute kurz auf den Fahrer, der mit der rutschigen Landstraße beschäftigt war. Victor hatte diese Reise monatelang vorbereitet und bisher lief alles wie geplant. Er war allein unterwegs, fühlte sich aber nicht einsam, da er jederzeit mit seinem Bruder kommunizieren konnte. Anton hatte sich bereit erklärt, während Victors Reise immer erreichbar zu sein – auch wenn er dafür vormittags schlafen musste, um die Zeitverschiebung auszugleichen.

Am Straßenrand war ein Ortsschild mit der Aufschrift „San Martín de los Andes” sichtbar. Es war jedoch nur eine Ankündigung, denn es waren noch acht Kilometer bis dorthin zu fahren. Victor überlegte gerade, ob der Fahrer ausreichend Englisch spricht, da kam auch schon die Bestätigung von Mateo:

»Du hast die längste Straße Argentiniens ausgewählt. Die Ruta Nacional 40 ist über 5.000 km lang, verläuft parallel zu den Anden und durchquert den ganzen Westen Argentiniens. Hast du vor, sie bis zur Südspitze Patagoniens zu fahren?«

»Ich habe mehr vor als das«, antwortete Victor. Doch plötzlich war er sich nicht mehr so sicher, was mehr ist.

San Martín de los Andes

Mateo hat angedeutet, dass er das sechs Kilometer entfernte Dorf gut kennt. Direkt am Ortseingang befindet sich ein Bike Hostel und zwei Häuser weiter eine Tankstelle, sagte er. Das wäre eine optimale Ecke, um das Fahrradproblem zu lösen. Victor war glücklich und machte gleich einen Fehler. Er aktivierte seine Videokamera an der Brille und drehte sich in Richtung Fahrer. Mateo bemerkte anhand der blinkenden LED, dass eine Aufnahme lief.

»Was soll das? Du machst ein Video, ohne mich zu fragen? Ich will nicht gefilmt werden.« Victor stoppte die Aufnahme mit einer Fingerbewegung in seiner Jackentasche.

»Sorry, Mateo. Ich wollte gerade fragen, ob du etwas dagegen hast, wenn ich eine Minute unserer Fahrt aufnehme. Ich möchte die Reportage meiner Reise als E.O.F.T.-Film präsentieren lassen.«

»Was ist E.O.F.T.? Eine Drogenbehörde?«

»Nein, es steht für European Outdoor Film Tour.«

»Na gut. Europa ist weit entfernt von hier. Ich möchte nur nicht, dass mein Vater irgendwann sieht, dass ich seinen Pick-up genommen habe.«

»Okay, es heißt also, du hast nichts dagegen, dass ich die Aufnahmen verwende, wenn die Filmtour nicht nach Argentinien kommt?«

»Und was ist mit YouTube? Was bereits aufgenommen wurde, kannst du verwenden, es ist sowieso sinnlos. Wir sind da«, sagte Mateo und stoppte das Auto vor dem Hostel. Er stieg aus und half, das Fahrrad von der Ladefläche zu nehmen. Dabei bemerkte er nicht, dass die Brille wieder im Aufnahmemodus lief.

»Victor, mach’s gut, viel Erfolg, sei vorsichtig. Mach mal ein Foto vom Pick-up, dann hast du die Kontaktdaten. Wenn aus der Reise ein Outdoor-Film wird, möchte ich den doch sehen.«

»Am besten schaust du es dir gleich mit deinem Vater zusammen an. Das Foto habe ich bereits. Und danke für deine Hilfe.«

So blieb Victor vor dem Eingang des Bike Hostels stehen. Das Fahrrad hatte definitiv eine Platte am Vorderrad, aber jetzt bestand eine gute Chance, dass es schnell repariert wird. Es war 17 Uhr und eine passende Unterkunft war jetzt ebenfalls in Reichweite. Victor ging hinein und bekam schnell ein Bett in einem Mehrbettzimmer inklusive abschließbarem Schrank sowie Vorschläge für Sehens- und Essenswertes in der Nähe. Er brachte seine Taschen ins Zimmer, schloss seine Geräte an Steckdosen zum Laden an und fing an, den Fahrradschlauch zu reparieren. Er war schnell damit fertig, nahm einen kleinen Rucksack aus dem großen heraus und marschierte ohne Fahrrad los. Sein Ziel war der See auf der anderen Seite des Dorfes, der kaum einen Kilometer entfernt war. Der Lago Lácar war größer als erwartet. Er zog sich 20 Kilometer weiter bis nach Hua-Hum, wo es laut Karte einen Fluss und ein Restaurant gab.

 Victor nahm am Aussichtspunkt Costanera Lago Lácar Platz und holte sein halbfertiges Buch auf seinem iPad heraus. Wenn er mindestens eine Woche lang nichts Neues geschrieben hatte, las er zuerst alles erneut, um in Stimmung zu kommen. Er las das Buch sehr konzentriert und ignorierte dabei sowohl die wunderbare Umgebung als auch die Tatsache, dass er Hunger hatte und dutzende Restaurants ganz in der Nähe waren.

Eine Tirologie, Kapitel Eins

Südtirol blickt auf eine außergewöhnliche Geschichte zurück. Sie ist ganz anders als die Geschichte seiner Nachbarregionen Tirol und Trentino. Ja, ich weiß, das ist meist bekannt und es könnte uninteressant wirken, darüber erneut zu schreiben. Auf den ersten Blick. Ich bin aber schlau. Ich starte gleich mit dem zweiten Blick. Ich heiße Victor und die Ursprünge meiner Familie reichen Jahrhunderte zurück. Unser Familienname Hofer stammt aus Deutschland und spiegelt die Geschichte der Region wider. Mein Urgroßvater Andreas, geboren im Jahr 1910, ist bereits verstorben, jedoch habe ich ihn noch persönlich getroffen. Mit je einem Generationssprung von 30 Jahren folgten dann mein Großvater Josef (1940), mein Vater Georg (1970) und ich, Victor (2000). Die Zahlen und Namen kann man sich sowieso nicht merken, also starten wir jetzt einfach durch.

»Eine Tirologie, Kapitel eins«, sagte mein Urgroßvater mit einem Kindermikrofon in der Hand und schaute das Tonbandgerät auf dem Esstisch ganz genau an, um sicherzugehen, dass die Aufnahme lief. Ich war damals zehn Jahre alt und es war mein bunter Kassettenrekorder. Die Idee, anlässlich der hundertjährigen Geburtstagsfeier eine Aufnahme, eine Art Reportage, zu organisieren, stammte ebenfalls von mir.

»Sag auch deinen Namen, das Datum und den Ort«, fügte ich in der Rolle eines Reporters hinzu.

»Andreas Hofer, 2. Juni 2010, Meran, Naifweg. Es fühlt sich an wie ein Verhör. Was hast du eigentlich mit der Aufnahme vor?«, fragte mein Urgroßvater. Er hatte nur eine Hand, glücklicherweise die rechte, mit der er das Mikrofon festhielt. Im Kopf war er fit, er war schlauer als mein Großvater.

»Die Straße heißt offiziell Via Val di Nova. Was ich vorhabe? Ich möchte deine Stimme noch lange hören und nicht vergessen, was du heute zu erzählen hast«, sagte ich und schaute auf meine Armbanduhr. Eine Kassette hatte eine Aufnahmezeit von 45 Minuten.

»Soll ich selbst wissen, was ich zu erzählen habe, oder hilfst du mir?«

»Na ja, erzähl doch erst einmal von deinem zehnten Geburtstag!«

Uropa holte tief Luft und überlegte, wie er anfangen sollte.

»Ötzi war damals schon Geschichte und bei uns gab es garantiert keine Geburtstagstorte. Wir standen immer noch im Schatten des ersten Weltkriegs.« Dann schaute er auf die rot-weißen Fensterläden, die wie österreichische Flaggen wirkten. Er wollte das Mikrofon in die andere Hand nehmen, doch es gelang ihm nicht. Er redete plötzlich weiter. »Bis 1918 gehörte Südtirol zur Grafschaft Tirol und damit zum Habsburgerreich. Nach Kriegsende wurde Südtirol durch italienische Truppen besetzt. Im Jahr 1919 wurden wir durch den Vertrag von Saint-Germain völkerrechtlich Italien angeschlossen.« Dann machte er wieder eine Pause und es war spürbar, wie er 90 Jahre alte Erinnerungen abrief. »Als ich zehn Jahre alt wurde, redete man ständig über „Zwangsitalisierung“. Aus Protest haben meine Eltern Pizza und Spaghetti aus der Küche verbannt. So konnte ich nicht einmal an meinem Geburtstag mein Lieblingsessen genießen.«

»Was war dein Lieblingsessen?«

»Spaghetti Carbonara. Was gibt es heute zum Essen?«, fragte Uropa, drehte sich zu meiner Mutter um und fügte ohne eine Antwort abzuwarten hinzu: »Geburtstage waren in meiner Jugend nebensächlich. An meinem 36. Geburtstag jedoch wurde der 2. Juni plötzlich ein Nationalfeiertag, denn aus einer Monarchie wurde eine Republik. Ich musste danach an meinen Geburtstagen nicht mehr arbeiten.«

»Das ist eine schöne Geschichte, Uropa. Was hast du eigentlich damals gearbeitet?«

»Du weißt es, Victor. Ich war Lokomotivführer.«

»Ja, klar. Ich bin schon einmal in Deutschland mit einem ICE namens Andreas Hofer gefahren!«

»Moment mal, das ist eine ganz andere Geschichte. Dieser Andreas Hofer war ein Freiheitskämpfer und Anführer der Tiroler Aufstandsbewegung von 1809. Um deine noch nicht gestellte Frage zu beantworten: Eine Verwandtschaft wurde nie bewiesen, aber auch nicht ausgeschlossen.«

Und so ging das Interview weiter. Als ich dreizehn Jahre später während meines Umzugs zur Universität die alte Kassette fand, kam mir die Idee, ein Buch über Südtirol zu schreiben, das die Erzählungen dreier Generationen vereint. Eine „Tirologie” – auf den zweiten Blick.

…Ihr könnt weiterlesen, wenn das Buch erscheint…

Ich drehte mich zu ihm und sagte mit sanfter Stimme, mit meinem besten Englisch: I know, you are the richest person of the world, you have a very interesting life, you meet hundreds of others every day – but I am sure, you are alone…

Yes, sure, I am Elon.

No, I told you „alone“. Can you understand me?

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